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Vom Kleiderschrank zum Hightex-Standort

Die Region Hof blickt auf eine wechselhafte Wirtschaftsgeschichte zurück. Auf den Aufstieg der Textilindustrie im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert folgte eine tiefe Depression. Und heute? Die Unternehmen haben sich neu erfunden, neu erfinden müssen. Eine traditionsreiche Branche schafft den Umbruch und springt technologisch in eine neue Ära. Zwei Beispiele.

Über ein Jahrhundert stand der „Kleiderschrank der Welt“ im hohen Norden Bayerns. Er wurde gefüllt von den vielen Hauswebereien im Frankenwald und rund um Hof. Angetrieben durch eine technische Revolution, den Jacquard-Webstuhl, bildeten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts industrielle Strukturen, die zu einer Blüte der oberfränkischen Textilproduktion führten. Die mechanisch hergestellten Gewebe gingen in alle Welt – als „schwere Ponchos für die Indianer Südamerikas“, „Lendentücher für Zulus“ oder „bunte Waffeltücher für die Australierin“, wie 1921 der Chronist Hans Seiffert über die Textilstadt Helmbrechts schrieb.

Diese Epoche ist längst Geschichte. Nur die Ausstellung im Textilmuseum in Helmbrechts erinnert noch an diese prägende Zeit. Schon der Beginn des Ersten Weltkrieges machte der florierenden Exportwirtschaft ein jähes Ende. Billigkonkurrenz aus Fernost und der vielbesagte Strukturwandel in der Textilindustrie zum Ende des 20. Jahrhunderts setzten die traditionsreichen Manufakturen weiter unter Druck. So manch kriselndes Unternehmen blieb dabei auf der Strecke. Tausende Arbeitsplätze gingen verloren.

Aber dennoch, die oberfränkische Textilindustrie war nie wirklich totzukriegen und ist weiterhin ein bedeutender Wirtschaftszweig. Zu überzeugend ist bis heute die Qualität der Produkte. Doch heute geht es weniger um Tücher und Dekostoffe, sondern immer mehr um die Entwicklung textiler Hochleistungsmaterialien für die Industrie.

Technische Textilien ersetzen konventionelle Werkstoffe

In der Produktion technischer Textilien sehen Unternehmen wie die Sandler AG den Weg in die Zukunft. Schon heute erwirtschaftet die deutsche Textilindustrie mehr als 60 Prozent ihres Umsatzes mit technischen Textilien, betont der Firmenchef und Präsident des Verbandes der Bayerischen Textil- und Bekleidungsindustrie, Dr. Christian Heinrich Sandler. Sein Unternehmen ist mit einem Umsatz von 319 Millionen Euro im Jahr 2017 und über 820 Mitarbeitern einer der großen Spieler auf dem Weltmarkt für Vliesstoffe.

Einst einfache Produkte für Polster- und Reinigungsanwendungen hat das familiengeführte Unternehmen zu einem High-Tech-Werkstoff weiterentwickelt. Vliesstoffe basieren auf einer Vielzahl feinster Fasern, die zu einer offenporigen Struktur verbunden werden - mal fest miteinander verpresst, mal locker miteinander verbunden. Und eben diese Struktur ist das Geheimnis dieser Textilien, durch sie werden dem Material die unterschiedlichsten Eigenschaften verliehen. Es ist weich und anschmiegsam, schmutzaufnehmend und saugstark, formstabil und konturtreu, absorbierend und dämmend oder atmungsaktiv und rückformend.

Technische Vliesstoffe von Sandler sind vertreten in der Bauindustrie, in der Filtrationstechnik, vor allem aber im Automotive-Bereich. Sie finden sich beispielsweise in der Türseitenverkleidung, dem Dachhimmel, in der Armaturentafel, als Säulenverkleidung oder im Motorraum. Durch sein geringes Gewicht leistet das Material einen enormen Beitrag zum Leichtbau. Gleiches gilt für ein neuartiges, sehr leichtes Vlies-Verbundmaterial, das für komplette Automobil-Formteile eingesetzt werden kann. Dazu werden eigensteife Vliesplatten ein- oder beidseitig mit einer Deckschicht aus carbon- oder glasfaserverstärkten Kunststoffen versehen. So entstehen biegesteife Hightech-Materialien, die im Unterboden und Dachhimmel oder auch als Karosserieteile angewendet werden. Da sie verformbar sind, lassen sie sich den jeweiligen Bauteilkonturen optimal anpassen. Für den Baubereich hat Sandler technische Vliesstoffe entwickelt, die der Isolation in Wohngebäuden, Industriehallen und Büroräumen dient. Aufgrund seiner hervorragenden Dämmwirkung kommt der Werkstoff in Fassaden, Dächern und Innenwänden zum Einsatz. Akustisch wirksame Vliesstoffplatten kommen in Wand- und Deckensystemen, Trennwänden, Möbeln oder als Wanddekoration zum Einsatz. Sie dämpfen den Geräuschpegel im Raum und schaffen ein ruhiges, konzentrationsförderndes Arbeitsumfeld.

Dr. Christian Heinrich Sandler, der das 1879 gegründete Traditionsunternehmen in der vierten Generation führt, sieht die Zukunft der Branche in der Entwicklung textiler Innovationen. Bautextilien würden zunehmend Bereiche erschließen, die bisher von klassischen Werkstoffen wie Stahl, Holz oder Glas geprägt seien. „Der weltweite Vliesstoffmarkt mit neuen wirtschaftlichen und qualitativen Produkt- und Anwendungsanforderungen verlangt nach neuen Wegen.“

Technische Textilien machen konventionelle Werkstoffe überflüssig

Diese hat auch Alexander Schmidt beschritten. Er leitet gemeinsam mit seinem Bruder Andreas in der bereits fünften Generation das Familienunternehmen V. Fraas in Wüstenselbitz bei Helmbrechts. Das 1880 gegründete Unternehmen ist Weltmarktführer im Bereich Schals, Tücher und textile Accessoires und betreibt 25 Vertriebsstandorte auf vier Kontinenten, eigene Produktionsstandorte in Deutschland, Tschechien und China und weltweit rund 100 Flächen unter der Eigenmarke FRAAS – The Scarf Company. Seit 2008 widmet sich Schmidt mit dem Tochterunternehmen V. Fraas Solutions in Textile dem Produktsegment industriell anwendbarer textiler Lösungen.

„Bekanntlich steht man ja auf zwei Beinen besser als auf einem. In unserem traditionellen Marktumfeld im Bereich der Schals und Tücher sind einfach gewisse Wachstumsgrenzen gesetzt“,

sagt der 45-Jährige. „Aber wir haben sehr großes textiles Know-how. Auch wenn man das dem Produkt Schal zunächst nicht ansieht. Was da an textiler Kompetenz einfließt, ist nicht zu unterschätzen. Außerdem haben wir den Vorteil, dass wir alle Wertschöpfungsstufen selbst im Haus abdecken. Wir verfügen über Wissen und Technologien, die wir nun auch im Bereich der technischen Textilien einsetzen.“

V. Fraas Solutions in Textile entwickelt gewirkte Textilien mit zwei- und dreidimensionalen Strukturen. Deren Tragfähigkeit sei beispielsweise im Verbund mit Beton oder Kunststoff enorm. Dafür setzt man Hochleistungsfäden aus Carbon, Aramid, Glas, Basalt und Keramik ein. Als Geschäftsfeld hat Alexander Schmidt vor allem den Baubereich im Visier. Mit dem Produkt SITgrid, einem technischen Textil mit räumlicher Struktur, lässt sich Textilbeton realisieren, der konventionellem Stahlbeton in vielen Bereichen überlegen sei. „Diese textile Lösung ersetzt Stahl komplett als Betonbewehrung“, sagt Schmidt.

Die prinzipiellen Vorteile des Textilbetons wie geringes Gewicht, Korrosionsbeständigkeit, Wasserundurchlässigkeit und extrem hohe Zugfestigkeit seien so bestechend, dass sie eine ganze Bautechnologie revolutionieren könnten. Der Firmenchef sieht die Chance für sein Produkt vor allem im hohen Sanierungsstau. „Allein in Deutschland müssen 70.000 Brücken dringend saniert werden. Dafür ist Textilbeton prädestiniert und die Eigenschaften unseres neuen Materials sind so überzeugend, dass es sich über kurz oder lang durchsetzen wird. Mit diesem Produkt hat für V. Fraas eine neue Ära begonnen.“

Von: Michael Ertel und Jörg Raithel


Erstveröffentlichung: www.hochfranken.org

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