160 Kilometer, in vier Tagen, bei 30+ Grad – freiwillig und zu Fuß. Warum? Diese Frage wurde mir häufig auf meiner Wanderung rund um den Landkreis gestellt. Die Frage könnte genauso lauten, warum den Jakobsweg laufen, warum die Alpen mit dem Fahrrad überqueren, warum mit dem Segelboot über den Atlantik segeln, warum im Baumhaus übernachten, warum überhaupt etwas machen? Die Antwort: Es ist die Lust am Abenteuer, die Lust auf neue Perspektiven und die körperliche Herausforderung.
2018 habe ich die 12 Gipfel des Fichtelgebirges in einem Tag erwandert – ein fantastisches Erlebnis und dringend zur Nachahmung empfohlen. Danach habe ich mir vorgenommen, dies zur Tradition werden zu lassen und jedes Jahr ein solches Projekt zu starten. Und für 2019 hatte ich mir die Landkreisumrundung in den Kopf gesetzt. Inspiriert haben mich verschiedene Bücher über Fußreisende. Ich liebe die Fortbewegung aus eigener Kraft, die körperliche Herausforderung und gleichzeitig das Meditative, weil man ganz schnell zur Ruhe kommt, weil man mehr sieht, riecht, hört, wenn man sich außerhalb einer Blechkiste mir vier Rädern bewegt. Weil man sich umweltfreundlich fortbewegt und weil man viel häufiger ein Schwätzchen halten kann. Es ist unglaublich, was man schafft, wenn man sich aus der Komfortzone herausbewegt. Ich bin durchschnittlich fit. Was ich schaffe, schaffen viele.
Achtung: Die in komoot nachgebildete Strecke ist nur eine Näherung, die ich im Nachhinein (1 Jahr später ;-)) angelegt habe und die nur einen groben Einblick in meine Route geben soll. Ich kann mich nicht mehr an alle Streckenabschnitte erinnern. Wie erwähnt navigiere ich offline mit der App mapswithme. Die Streckenführung bzw. die Routenvorschläge zwischen komoot und mapswithme unterscheiden sich aber zum Teil deutlich. Daher unterscheiden sich auch die Streckenangaben, auch weil bei komoot meine Irrgänge bei der Wanderung nicht berücksichtigt sind ;-). Im Grunde macht es sowieso keinen Sinn, genau meine Route nachzulaufen. Jeder sollte sich von seiner eigenen Nase leiten lassen. Das ist das Prinzip des experimentellen Tourismus.
Immer der Nase lang
Ein bisschen war das Projekt Landkreisumrundung auch aus der Not geboren, weil ein klassischer Sommerurlaub für mich und meine Familie in dem Jahr nicht in Frage kam, weil unser zweites Kind im Anflug war und wir nicht weiter wegfahren konnten/wollten. Am einem Sonntag im Juli habe ich mich auf den Weg gemacht. Einen wirklichen Routenplan hatte ich auch diesmal nicht und wie immer navigiere ich mit der App mapswithme. Im Grunde habe ich überhaupt keinen Plan. Eine gewisse Planlosigkeit ist der Plan. Experimenteller Tourismus nennt man das im Fachjargon – eine alternative Form des Tourismus, bei der es nicht vorrangig um das Abklappern von touristischen Highlights geht, sondern um das Sichtreibenlassen, das Überraschende und Zufällige, das scheinbar Unwichtige – Sigthseeing abseits der Sehenwürdigkeiten sozusagen. Der Franzose Joël Henry hat diese Art des Reisens geprägt. Ideal für die, die vom klassischen Tourismus und all seinen unangenehmen Wucherungen, vom Bezahlen und Anstehen, gelangweilt sind, für die, die nicht immer alles planen wollen und die offen und flexibel genug sind für Überraschungen. Beim Experimentellen Reisen entscheidet die Nase, wo die Reise hingeht.
4 Tage, 4 Etappen, rund 160 Kilometer, mehr als 210.000 Schritte
Natürlich habe ich mir für die Runde ganz grob eine Strecke zurechtgelegt: 4 Etappen á 40 bis 45 Kilometer, jeden Tag ein Marathon, gegen den Uhrzeigersinn einmal rundherum um den Landkreis. Bei einer Schrittweite von etwa 75 Zentimeter mehr als 210.000 Schritte.
2019 konnte kein Mensch ahnen, dass ein Jahr später diese Option des Urlaubmachens mehr denn je in Frage kommt – Corona sei Dank. Dass die Leute wieder in kleineren Radien denken (müssen) und Urlaub dahaam wieder voll im Trend ist. Im Juli 2019 war davon noch nichts zu spüren. Auf dem Weg zum Ausgangspunkt der Wanderung am Waldsteinhaus reißen die Horrornachrichten im Verkehrsfunk gar nicht ab. Stundenlange Staus auf der A8, Blockabfertigung am Brenner. Wie jedes Jahr war halb Deutschland auf dem Weg zum Gardasee. Warum frage ich mich, warum tut man sich das an?
Ein paar hundert Meter nach dem Start am Waldsteinhaus stehe ich mutterseelenallein im Wald. Wald, Wald, nichts als Wald und Frieden. Anderthalb Stunden lang treffe ich keine Menschenseele. Ich stoße einen Freudenjodler aus: kein Verkehr, keine Schlangen, kein Kommerz, niemand, der mir etwas verkaufen will. Alles ist da, alles ist für mich, alles ist umsonst. Das Ziel für diesen Tag: der Kräutergarten in Faßmannsreuth bei Rehau. Dort möchte ich mein Zelt aufschlagen.
Kein klassischer Reisebericht
Diese kleine Rückschau auf die für mich persönlich sehr wertvolle Erfahrung soll aber nicht die touristischen Hotspots der Region anpreisen, soll keine Vorlage sein zum unreflektierten Nachäffen, sondern Lust machen und anregen, die Region und ihre Schätze auf eigene Faust zu entdecken, seine eigenen kleinen Highlights zu suchen und neugierig zu sein. Unsere Region (und viele andere auch) bietet auf minimaler Fläche einen unheimlichen Facettenreichtum. Das Fichtelgebirge im Süden, Natur ohne Ende, die (wilde) Grenze zu Tschechien im Osten, wo an manchen Stellen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und sich viele unberührte Ecken erhalten haben, im Nordosten und Norden die unberührte Saale, das wildromantische Höllental, der raue aber freundliche Frankenwald. Sprachlich liegen Welten zwischen Neuhausen am östlichen Zipfel des Landkreises und Kleindöbra im Frankenwald – Luftlinie kaum mehr als 40 Kilometer voneinander entfernt. Die Architektur, im Süden Granit, im Nord Schiefer. Über 40 kleine Audiofiles habe ich in den vier Tagen aufgenommen, um die vielen Eindrücke und Gedanken festzuhalten, habe minutenlange Selbstgespräche geführt, um die Erlebnisse zu verarbeiten.
Ein Jahr ist vergangen seit der Wanderung. Ein Jahr, in dem ich oft zurückgedacht habe an die vier Tage, weil sie mir im Nachhinein vorkommen wie eine Leuterung. Dieser Artikel war zum Zeitpunkt der Wanderung bereits geplant und sollte deutlich früher erscheinen. Ich hatte mir schon vorgestellt, wie ich ihn schreiben würde. Ich hätte von meinen Erlebnissen erzählt, von der ersten Nacht im Kräuterdorf, auf die ich mich so gefreut und mir ausgemalt hatte, wie wunderbar es sein würde, inmitten all der duftenden Pflanzen zu schlafen und dass es letztendlich eine Horrornacht war, weil ich vor Kälte (12 Grad) kein Auge zumachen konnte und um 4.00 Uhr meine Sachen wieder zusammengepackt habe und zur zweiten Etappe aufgebrochen bin. Ich hätte von den vielen interessanten Begegnungen und der Hilfsbereitschaft der Menschen erzählt, vom Rausch der Sinne und dem Wechselbad der Gefühle aus Freude und Frust, den vielen Glücksmomenten, aber auch von den Depriphasen nach 15-stündigen Hitzemärschen bei über 30 Grad. Vom Muskelkater am zweiten Morgen, dass ich die ersten Kilometer gelaufen bin wie auf Stelzen, dass ich kurz vorm Auensee aufgeben wollte, weil ich mich mehrfach übergeben musste vor Kraftlosigkeit und weil ich nur noch im Schneckentempo vorangekommen bin. Vielleicht hätte ich von der ungeplanten Nachtwanderung im Gerlaser Wald bei Bad Steben erzählt, dass ich mir fast in die Hosen gemacht hätte vor Angst, weil es stockfinster war, weil ich die Orientierung verloren hatte und wegen meines leeren Handyakkus weder eine Taschenlampe hatte, noch navigieren konnte. Bestimmt hätte ich die ältere Dame aus Kemlas erwähnt, die ihren Namen hier nicht lesen möchte und die mich trotz ihrer Befürchtung, ich sei ein Landstreicher, meinen Akku bei sich hat aufladen lassen und mir sogar was zum Trinken gegeben hat. Und ich hätte von Günther, dem Freund unserer Familie erzählt, der mein Gastgeber in der letzten Nacht war, der bis Mitternacht ausharren musste um mich zu empfangen, weil ich auf dieser Etappe viel länger gebraucht habe als geplant. Der ein rühriger Gastgeber ist, dem ich am nächsten Tag aber gar nicht danken konnte, weil er mir mit seinem Geschnarche die Nacht geraubt hat. Ich hätte viele tolle Fotos gezeigt, die aber in Wirklichkeit nie entstanden sind, weil ich irgendwann keine Lust mehr hatte zu fotografieren. Und ich hätte ganz bestimmt von der Genugtuung erzählt, die ich spürte, als ich nach vier Tagen wieder in Zell angekommen bin und meine Tochter mich in die Arme genommen hat. Ich hätte einen Artikel geschrieben, wie ihn alldiejenigen erwartet haben, die meine Wanderung im letzten Jahr mitverfolgt haben.
Jeder macht seine eigenen Erfahrungen
Jetzt, mit einem Jahr Abstand, sind die Erlebnisse verblasst und mir scheint es irgendwie sinnlos, Emotionen aufzuschreiben, die ich nicht mehr empfinde, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze. Jeder hätte diese kleine Reise vermutlich anders empfunden, weil Empfindungen eben auch von persönlichen Erfahrungen abhängen. Deshalb spare ich mir das und rufe alle auf, die Möglichkeiten, die wir haben, zu nutzen. Was bei mir hängen geblieben ist, ja, und das klingt sehr platt, wie wunderbar die Natur ist, dass wir sie schützen müssen, wie viel wenig sein kann, was der Körper zu schaffen im Stande ist, dass man nicht immer um die halbe Welt reisen muss, um seinen Horizont zu erweitern und dass es Zeit ist, wieder aufzubrechen. Eine Idee für dieses Jahr habe ich schon…