Mit dem Heiligen Abend beginnt eine Zeit der Besinnlichkeit, die zur inneren Einkehr einlädt und den Stress des alltäglichen Lebens vergessen lässt. Doch wenngleich wir die Weihnachtsfeiertage heute in erster Linie als Fest der Familie begehen, waren sie für die Bewohner des Hofer Landes einst zugleich Beginn eines Jahresabschnitts, der Dunkelheit und Angst mit sich brachte: Bis heute kennt man jene „Raunächte“ oder auch „Unternächte“, auch wenn das Wissen um ihre einstige Bedeutung immer mehr zu verschwinden droht.
>> Zu Beispielen für „Althergebrachte Bräuchte und Riten im Hofer Land“
Die Raunächte: Zwölf mystische Nächte, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweben …
Die Macht der Raunächte liegt in der Zahlenmystik verborgen: Die sechs letzten Nächte des alten und die sechs ersten des neuen Jahres ergeben zusammen zwölf – ebenso, wie die zwölf Stämme Israels, die zwölf Apostel oder, in der säkularen Lesart, zwölf Monate eines Jahres.
Sie stellen damit einerseits eine Verbindung her zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmos Welt. Andererseits aber markieren sie einen Abschnitt des Übergangs, in dem nicht allein Alt und Neu eng beieinander liegen, sondern sich in den Augen der Vorfahren die Zeitläufte überlagerten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollten sich in den zwölf Nächten verweben und so einen Blick auf künftige Ereignisse erlauben (bis heute schreiben manche Menschen die Träume der Raunächte auf, da sie die zwölf Monate des nächsten Jahres symbolisieren sollen), aber auch den Seelen der Verstorbenen einen Weg ins Diesseits eröffnen.
… und die Geister Schabernack treiben
Wie auch an Allerseelen, wandern die Geister in den Raunächten umher und treiben allerlei Schabernack. Um ihnen zu ermöglichen, wieder ins Jenseits zurückzukehren, muss ihr Pfad frei sein von Hürden und Stolperfallen. Daher darf man in den Raunächten keine Wäsche aufhängen (ein Brauch, den bis heute viele Menschen betreiben), da sie sich darin verfangen könnten und so das ganze nächste Jahr über umherirren müssten; sehr zum Missfallen jener Personen, die sie durch ihre Unachtsamkeit an die Gegenwart gebunden haben.
Aberglaube – oder Versuche, die Welt zu erklären
Der Mensch kann die Welt nicht einfach so hinnehmen, wie sie sich ihm darstellt. Er sucht stets nach Ursachen und Zusammenhängen.
Die Vorstellungen, die jenen Bräuchen zugrunde liegen, sind dem Volksglauben zuzuordnen, den man – dank Martin Luther – auch oft mit „Aberglauben“ gleichsetzt. Der große Reformator war es, der einst sagte, dass alles, was nicht christlichen Ursprungs sei, den aufrechten Menschen vom gottgefälligen Wege abbringe und daher zu verteufeln wäre. Von eben dieser Definition stammt die bis heute teils stark negativ aufgeladene Positionierung gegen den Aberglauben ab, der infolgedessen oft mit „Heidentum“ und entsprechenden Riten gleichgesetzt worden ist.
Tatsächlich liest man immer häufiger, dass vorchristliche Rituale, germanische Götter oder keltische Religionen den Kern des Aberglaubens bildeten. Deren Vorstellungen seien im Rahmen der Christianisierung mit Teufeln und Dämonen gleichgesetzt worden, wodurch aus Donar der Wilde Jäger und aus Freya die Drud geworden wäre. In Wahrheit hat dies nichts mit dem volksgläubischen Vorstellungen der Menschen zu tun, die sich auf eine sehr viel tiefergehende Struktur zurückführen lassen: Auf die Angst.
Was die Welt zusammenhält
Volksgläubische Vorstellungen lassen sich auf eine sehr viel tiefergehende Struktur zurückführen: die Angst.
Der Mensch ist, wie man in der Psychologie sagt, ein „wissenschaftlicher Laie“, was bedeutet, dass er die ihn umgebende Welt nicht etwa so hinnehmen kann, wie sie sich ihm gegenüber darstellt, sondern dass er stets nach Ursachen und Zusammenhängen sucht. Er will, um Goethe zu zitieren, „begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Auf der Jagd nach dieser Erkenntnis kommt der menschliche Genius jedoch immer wieder an verschiedene Grenzen; gibt es Dinge, die über seine Vorstellungskraft hinausgehen und auf die er keine adäquate Antwort finden kann.
Der Volksglaube hilft gegen die Unsicherheit
Insbesondere die anfangs angesprochene Verbindung des Einzelnen zum Großen, des Mikro- zum Makrokosmos stand dabei im Fokus: Fragen nach dem Sinn des Lebens, des Funktionierens der Natur oder auch dem Leben nach dem Tod treiben die Menschheit seit Anbeginn um – und dennoch haben wir noch immer keine Antwort darauf gefunden. In genau solchen Situationen greift der Volksglaube: Er dient dazu, sich Dinge, für die man keine Ursache finden kann, dennoch im Rahmen des Vorstellbaren zu beschreiben, um so auch gegen die Unsicherheit ankämpfen zu können, die sich einem sonst bemächtigen würde.
Mit übernatürlichen Phänomenen erklärten sich unsere Vorfahren Unerklärliches
Wann immer demnach jemand des Nachts in seinem Bett lag und ein unheimliches Heulen in der Hausecke hörte, dessen wahren Ursprung er nicht ergründen konnte, suchte er nach einer wenigstens ansatzweise nachvollziehbaren Deutung – und fand diese meist in Form übernatürlicher Phänomene: Aus dem heulenden Wind wurde die „Wehklage“ oder „das Wilde Heer“. Ein schmerzender Druck auf der Brust, der meist von der verkrümmten Haltung kam, mit der die Menschen am Webstuhl saßen, wurde als „Drude“ identifiziert.
Anschließend an jene Deutung konnte man sich Gedanken machen, wie man sich gegen die augenscheinlich bösen Mächte zu wappnen vermochte – der Ursprung des Brauchtums.
Bei den Raunächten kommt Volksglaube und Mystik zusammen
Bräuche sind Regeln, die logisch erscheinen.
Bräuche sind dabei nichts anderes als Regeln, die „Sinn ergeben“ und „logisch sein“ müssen. Sie funktionieren dabei nach dem einfachen Schema der Kausalattribution: Tue A, damit B nicht eintritt. Oder aber: B ist nur eingetreten, weil man A nicht getan hat. Übertragen auf die oben dargestellten Beispiele aus den Raunächten: Wenn jemand während dieser Zeit Wäsche aufhängt und ihm im nächsten Jahr ein Unheil geschieht, tritt dies nur deshalb ein, weil er den Brauch gebrochen hat. Dass es auch so gekommen wäre, wenn er sich an alle Vorgaben gehalten hätte, interessiert den Menschen in dieser Situation nicht.
Bei den Raunächten kommt demnach die grundsätzliche Vorstellung des Volksglaubens mit einer stark aufgeladenen Mystik zusammen, was erklärt, dass man insbesondere in jener Zeit davon überzeugt gewesen ist, alles tun zu müssen, um Unheil von sich fernzuhalten.
Althergebrachte Bräuche und Riten im Hofer Land
Einige Beispiele der Bräuche und Riten während der Raunächte aus dem nordoberfränkischen Raum sollen nun noch einmal kurz vorgestellt werden:
Neunerlei und Zwölferlei essen
Ebenfalls eine Vorstellung, die sich von der Zahlenmagie ableiten lässt. An Heiligabend und Silvester müssen so entweder neun (also 3×3, wobei die drei für die Dreifaltigkeit steht und daher besonders segensspendend wirkt) oder aber zwölf verschiedene Speisen aufgetischt werden.
Windgeister besänftigen
Die Essensreste an jenen Tagen müssen in das „Soma-Eck“ gebracht werden. Dabei handelte es sich um jene Ecke, an der die Felder der Familie aneinanderstießen. Dort sollte das Essen in alle vier Himmelsrichtungen ausgestreut werden, um die Windgeister zu besänftigen. Tat man dies nicht, würden sie einem im nächsten Jahr die Ernte ruinieren.
Haus und Stall räuchern
Um das Haus vom „Alten“ zu reinigen, verbrannte man allerlei Kräuter – darunter Johanniskraut – von deren Rauch sich auch der Name der Raunächte ableiten soll.
Blick in die Zukunft: Geistern lauschen, mit Tieren sprechen, über Aussaat entscheiden …
Wichtig war, wie bereits erwähnt, auch der Blick in die Zukunft, der sich bis heute im Bleigießen erhalten hat. Zusätzlich ging man einst ins Horchen: Stellte sich demnach zwischen Mitternacht und ein Uhr auf einen Kreuzweg und lauschte, was einem die Geister erzählen würden. Genauso konnte man die Tiere im Stall nach zukünftigen Ereignissen befragen, die in den Raunächten mit menschlicher Stimme zu sprechen vermochten.
Um herauszufinden, welches Getreide man im nächsten Frühjahr aussäen sollte, wurde Wasser aus einem nahen Bach geholt und in verschiedene Gefäße gefüllt, die für je eine Saat standen. Nur die, in deren Behältnis sich am nächsten Morgen Blasen am Boden gebildet hatten, würde gut wachsen.
… Schlappen schmeißen und den Erbschlüssel drehen
Zwei komplett vergessene Bräuche der Raunächte sollten einen Blick in das Liebesleben erlauben: Beim Schlappenschmeißen stellte sich der Knabe an die geöffnete Haustür und warf den Schlappen über die rechte Schulter. Blieb er mit der Spitze zum Haus deutend liegen, würde er ein weiteres Jahr dort wohnen bleiben, zeigte er vom Haus weg, würde der Junge ausziehen, um die Liebe zu finden.
Beim Erbschlüsseldrehen indes hing das Mädchen den Schlüssel eines geerbten Möbelstücks an ein Haar und beobachtete, wie oft er sich in eine Richtung drehte. So viele Jahre würde sie auf ihren Zukünftigen noch warten müssen.
Der Volksglaube gehört zum Wesen des Menschen
All jene Riten sind heute fast komplett in Vergessenheit geraten, nachdem die Raunächte allen voran im Rahmen der „Technisierung“ des Alltags ihren Schrecken verloren haben. Und dennoch – wenngleich wir uns heute meist abschätzig über diese Vorstellungen unserer Ahnen äußern – spüren wir noch immer ein leichtes Kribbeln im Nacken, wenn in jener Zeit etwas Unvorhergesehenes geschieht – der Volksglaube hat uns demnach nie verlassen, sondern sich nur zurückgezogen. Wie schon Goethe einst sagte, gehört er zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wann immer man ihn zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken, von wo er auf einmal, wenn man sich einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.
[Bildquellen: Adrian Roßner; Pixabay]
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(Aktualisiert am 06.12.2023)
Ein Kommentar
Wow. Vielen Dank, dass Sie diese zauberhafte Zeit aufleben lassen.